Minecraft in der Arbeit der von Cansteinschen Bibelanstalt (vCBA) 
Die von Cansteinsche Bibelanstalt hat das Ziel, Menschen die biblische Botschaft zeitgemäß nahezubringen. Innovative Ansätze zur Bibelerschließung werden entwickelt und Ideen, Wissen und Projekte verknüpft, um eigenes Interesse an der Bibel anzuregen. Lern- und Erfahrungsort der vCBA ist das Bibellabor in Neukölln. Hier wird vor allem Kindern und Jugendlichen ermöglicht, sich über kreative Angebote mit der Relevanz der Bibel auch für das eigene Leben auseinanderzusetzen. Minecraft als digitaler Lern- und Erfahrungsort er-weitert seit einigen Jahren das Spektrum der vCBA.
2018 entstanden im Team der von Cansteinschen Bibelanstalt erste Ideen für eine bibel-pädagogische Arbeit mit dem Computerspiel Minecraft. Ausschlaggebend war vor allem der große Bekanntheitsgrad des Spieles und eine merkliche Aufbruchstimmung innerhalb des jungen ehrenamtlichen Teams. Dabei konnte auf Erfahrungen aus den 2015 bis 2017 entwickelten ‚Berliner Bibeln‘ aus Klemmbausteinen zurückge-griffen werden.
Eine Grundvoraussetzung ist, dass die biblischen Geschichten im Spiel erlebbar sein sollen. Viele verschie-dene Formate wurden von der vCBA in Minecraft überaus erfolgreich erprobt. Die Minecraft-Gottesdienste sind ein dauerhaftes Erfolgsmodell, das sich nun schon im vierten Jahr etabliert hat und eine stetig wachsende Community aus dem gesamten deutsch-sprachigen Raum hervorgebracht hat, die mittlerweile auch regelmäßig Real-Life-Treffen in Berlin abhalten. Diese ganzen technischen Anforderungen führen auch zu einer Veränderung der notwendigen Fähigkeiten (Skills), um einen Gottesdienst durchzuführen. Die von Cansteinsche Bibelanstalt hat deshalb zu einem sehr frühen Zeitpunkt einen Mediendesigner angestellt.

Die Minecraft-Gottesdienste
Erste tiefergehende Erfahrungen mit dem Spiel Minecraft wurden 2019 mit einer 5. Schulklasse gesammelt. 27 Schüler:innen haben sich in einer Projektwoche intensiv mit der Schöpfungsgeschichte auseinanderge-setzt, den biblischen Text bearbeitet und dann in der Minecraft-Umgebung umgesetzt. Die dadurch gewon-nenen Erfahrungen sind in die Produktion der Minecraft-Gottesdienste eingeflossen.
Mit der Corona-Pandemie ab März 2020 war es aufgrund der Vorarbeiten schnell nötig ein rein digitales Online-Angebot in Minecraft zu erstellen, was ortsunabhängig genutzt werden kann. Zu einem frühen Zeit-punkt war es deutlich, dass ein (Jugend)-Gottesdienst nicht einfach nur von der analogen Feier in eine digitale Feier übertragen wird, sondern dass die Besonderheiten und Merkmale der Minecraft-Welt und der Spielweise eine Berücksichtigung finden müssen, um den Bedürfnissen des Zielpublikums gerecht zu werden.

Es musste eine digitale Transformation stattfinden, was mit Hilfe von freiwilligen Teilnehmer:innen umge-setzt wurde. Die Gottesdienste wurden stetig weiterentwickelt, haben sich verändert und wurden angepasst. Zeitgleicht hat sich eine schnell wachsende Community entwickelt.
Insgesamt wurden bis Anfang 2024 insgesamt zwölf Gottesdienst-Reihen gefeiert, bei denen meist zwei bis drei Gottesdienste zeitversetzt angeboten, um den großen Andrang zu bewältigen. Mehr als 50 Gottesdienstbesucher:innen sind aufgrund der technischen und inhaltlichen Voraussetzung weder umsetzbar noch sinnvoll.

Die Minecraft Community der vCBA
An den Minecraft-Angeboten der von Cansteinschen Bibelanstalt haben in den Jahren 2020 bis 2023 etwa 5000 Menschen teilgenommen. Schon nach dem ersten Gottesdienst war deutlich, dass die technischen Voraussetzungen angepasst und aufgerüstet werden müssen. Derzeit besitzen wir 1 Proxy-Server, 6 Unter-Server, sowie 18 Server-Plugins und 109 Plugins auf den Unter-Servern, die rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Man kann in dem Sinne von einer Online-Gemeinde sprechen, die durchschnittlich 40-50 Personen pro Gottesdienst umfasst. Das ist in der derzeitigen Form auch die Obergrenze für die technischen Ausstattung. Ebenfalls für die Handhabbarkeit und Steuerung einer Gruppe innerhalb des Minecraft-Spieles ist damit die Grenze für einen überschaubaren Ablauf erreicht. Andere Eventformen können deutlich mehr Teilneh-mer:innen aufnehmen, was dann allerdings zu Lasten der Partizipation und Interaktion geht.
Online entwickelte sich eine Teamer:innen-Gruppe im Alter von 13 bis 20 Jahren, die Gottesdienstevents vorbereiten und begleiten. Die etwas 15 Jugendliche und jungen Erwachsenen haben dafür spezielle Recht und Zugänge und verwalten sich als Community größtenteils selbst, machen Gestaltungsvorschläge und geben Projektideen ein. Die wöchentlichen Teamsitzungen werden durch haupt- und ehrenamtliche Mitglieder der von Cansteinschen Bibelanstalt begleitet.

Viele Jugendlichen nutzen diesen Canstein-Server, weil sie an ihrem Wohnort keine Anbindung an eine Kir-chengemeinde oder Jugendgruppe haben. Hier zeigt sich der große Vorteil der digitalen Medien. Anders als die kirchlichen Parochien entstehen in der Online-Welt ortsunabhängige Gemeinden und es prägen sich andere religiöse Netzwerke aus. Der digitale Raum wird auch zu einem religiösen Raum. Andere junge Er-wachsene wiederrum nutzen die Minecraft-Welt und finden hierrüber zum ersten Mal Kontakte zu den reli-giösen/christlichen Angeboten. Sie bauen Vorurteile gegenüber der kirchlichen Institution ab und nutzen das Sinnangebot der Minecraft-Community, weil Sie durch die Spiele-Welt mit eingebunden werden.

Youtube und Twitch
Der Zugang zu Minecraft erfolgt über einen kostenpflichtigen Account. Das bedeutet, dass der Gottesdienst eine sehr festgelegte Zielgruppe hat. Um dennoch auch Menschen ohne Minecraft Zugang die Möglichkeit zu geben, an Gottesdiensten teilzunehmen, werden die Gottesdienste über youtube oder twitch gestreamt. Beides sind Videoportale, in denen die Livestreams übertragen werden können und die öffentlich zugänglich sind.
Aus der Sicht einer vorher festgelegten Person wird dann der Gottesdienst (mit-)erlebt. Im Falle der twitch-Übertragung hat dies Andreas Erdmann mit seinem Kanal ecclesia digitale übernommen und dazu auch das Gottesdienst Geschehen kommentiert. Die youtube-Übertragung hat, ebenfalls mit Kommentaren, ein Mit-arbeiter der von Cansteinschen Bibelanstalt auf dem Kanal des Bibellabors ausgeführt. Nach kurzer Zeit hat sich gezeigt, dass diese ‚Notlösung‘ einer Liveübertragung direkt in ein sich bereits gut etabliertes Genre vorgestoßen ist. Seit etwa 2007 hat sich das Phänomen der Let’s-Play-Videos verbreitet, bei dem Spieler:innen während ihres individuellen Spielverhalten und ihrer Suche nach Spielelösung über Live-Stream begleitet werden. Daraus ist eine große Fangemeinschaft entstanden [1]. Dieses indirekte Spieleverhalten ist bereits eingängig untersucht und kann als „interpassives Spielen“ [2] bezeichnet werden. Das bedeutet, dass die Zuschauer:innen ähnliche Emotionen durchleben, wie die Spielenden selbst, ein „delegiertes Genießen“ [3]. Auf die Gottesdienste übertragen, eröffnet dies eine enorme Dimension, die es noch genauer zu un-tersuchen gilt. Beispielsweise deckt sich dieses Verhalten mit Gottesdienstbesucher:innen, die sich selbst als distanzierte Gäste ohne Beteiligung verstehen, dennoch emotional ergriffen sind.
Einige Besucher:innen der Minecraft-Gottesdienste berichten davon, dass sich ihre Familien versammeln, um die Live-Streams der Gottesdienste mitzuverfolgen (Typ B) oder aber dass sie selbst die Gottesdienste im Nachhinein nochmal anschauen (Typ A). Zu einigen Gottesdiensten wurde in der Philipp-Melanchthon-Kirche eine Public-Viewing-Area eingerichtet (Typ C), die auch sehr dankbar angenommen wurde.
Als erstes Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Beteiligung an einem Online-Minecraft-Gottesdienst über einen Live-Stream eine von mehreren Formen der Gottesdienst-Teilnahme sind.

Barrierefreiheit und Inklusion
Durch den kostenpflichten Zugang zum Online-Spiel scheint zunächst eine sehr hohe Zugangsanforderung zu entstehen. Gleiches gilt für das Spielprinzip an sich, das zumindest einige Grundkenntnisse des Minecraft-Spieles voraussetzt.
Aus der Sicht der Spieler:innen hingegen, findet der Gottesdienst in einer ihnen sehr gut bekannten Spieleumgebung statt, die sich nur durch einen anderen Ort im Spiel unterscheidet.[4]  Microsoft zählte 2021 für Minecraft etwa 140 Millionen Nutzer:innen im Monat und 200 Milliarden Views auf dem Videoportal Youtube. Das bedeutet, dass der Bereich der potentiellen Teilnehmer:innen enorm ist, selbst wenn die Ver-anstaltungen ausschließlich in deutscher Sprache durchgeführt werden. Durch die freiwillige Abfrage der Herkunftsorte am Anfang jedes Gottesdienstes, wird deutlich, dass die Besucher:innen aus dem gesamten deutschsprachigen Bereich kommen. Neben Deutschland, Österreich und der Schweiz, gibt es Jugendliche in ihrem Auslandsjahr, die über die ganze Welt verteilt sind. Diese Ortsunabhängigkeit ist eine große Stärke der digitalen Welt gegenüber ortsgebundenen Gottesdiensten und spielt bei der Frage der Erreichbarkeit von jungen Menschen im ländlichen Bereich eine wichtige Rolle. Voraussetzung ist allerdings ein stabiler Internetzugang, der zumindest in den meisten Haushalten gewährleistet werden kann. Gleichzeitig berichten auch Mitglieder der Community, dass sie während eines Urlaubs im Wohnmobil an einem Gottesdienst teilnehmen konnten.
Nicht zu unterschätzen ist die digitale Welt als Lebenswelt der Jugendlichen. Die Minecraft-Welt ist ein Raum, der sich von der Welt der Erwachsenen deutlich unterscheidet. In diesem kennen sich die Jugendli-chen aus, hier bestimmen sie viele Regeln auch selbst. Für die Veranstelungen bedeutet dies, dass ein gewisses Grundinteresse und Neugier vorherrscht und die Hemmschwelle für einen Besuch sehr niedrig ist. Nahezu unbemerkt können Teilnehmer:innen dem Gottesdienst beitreten oder auch wieder verlassen. Allgemein übliche Regeln wie: Stillsitzen oder Schweigen, weichen anderen Regeln, die den Jugendlichen als Spielprinzip bekannt sind. Für nicht wenige Jugendliche ist die digitale Welt dadurch ein Schutzraum.


Die Teilnahme am Gottesdienst erfolgt in sogenannten Avataren [5], künstliche Figuren, die selbst zusammengestellt werden können. So beschreibt ein Teilnehmer: „Im Moment bin ich Spiderman. Ich hab‘ dem noch ein paar Pickel drauf gemacht. In Minecraft kann man sich so gut wie jeden Skin machen. Das ist ziemlich egal.“ [6] Die Möglichkeit sein eigenes Aussehen selbst zu gestalten und auch völlig anonym zu bleiben, nutzen viele Besucher:innen. Die Menge von Informationen, die ich über mich preisgeben möchte, kann ich im Online-Spiel selbst bestimmen. Für einige ist das eine Spielerei mit Identitäten, eine Probeidentifikation oder ein Ausprobieren, dass zur persönlichen Identitätsfindung dazugehört. Andere berichten von massiven Mobbingerfahrungen in der Schule oder im Freundeskreis. Sie schaffen sich hier eine Parallelwelt, in der sie akzeptiert werden, feste Freunde finden und ganz so sein kön-nen, wie sie sich das wünschen. Im Speziellen spielt das bei der Gender-Frage eine außerordentliche Rolle. In der digitalen Welt können andere Rollen ausprobiert und erfahren werden. „Der Spieler ist nicht mit seiner Spielfigur in empathischer Weise verbunden, da er selbst entscheidet, was diese Figur im nächsten Moment tun soll. Der Spieler ist es selbst, mit dem er sich in der Gestalt seiner Spielfiguren identifiziert. Wie er in der realen Welt für sich selbst Verantwortung übernimmt, so übernimmt er im Spielprozess die Verantwortung für seine Spielfigur, also für seine virtuelle Personifizierung – und damit wiederum für sich.“ [7]
Ein anderer Gesichtspunkt der digitalen Veranstaltungen ist die Integration von Personen mit Einschränkun gen. Sofern die Nutzung eines Computers möglich ist, ist die Teilnahme ohne Beschränkung. Mehr noch, es besteht keine Notwendigkeit durch spezielle Maßnahmen die Partizipation zu ermöglichen. In der online Spielewelt spielt die Behinderung so gut wie keine Rolle und wird auch nicht als solche wahrgenommen. Eine befreiende Erfahrung.
Ein Beispiel aus der praktischen Arbeit macht dies deutlich: Beim Besuch einer Schulklasse, die am Minecraft-Programm teilnehmen wollte, war eine Schülerin mit Trisomie 21 Teil der Gruppe. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich das Mädchen in den Ablauf integriert, ihr eigenes Tempo gefunden und ihre eigenen Inhalte eingebracht. Die Begleitperson, die mit Minecraft nicht vertraut war, wurde von ihr umfassend aufgeklärt und auf die Elemente des Spiels hingewiesen. Dadurch kam es zu einem Rollentausch der Lehrenden und Lernenden.

Berlin, 20. Januar 2024 – Sascha Gebauer

 

 

 

 

 

[1] Newman, James, Videogames. Second Edition, New York 2013, 62
[2] So etwa Fuchs, Mathias, Interpassives Spielen, in: Judith Ackermann (Hg.), Phänomen Let’s Play-Video. Entstehung, Ästhetik, Aneignung und Faszination aufgezeichneten Computerspielhandelns, Wiesbaden 2017, der in drei Typen unterscheidet: Typ A: Rezeption in Situationen, die ein individuelles Betrachten ermöglichen (allein, zu Hause, während einer Bahnfahrt, im Wartezimmer, an Flughäfen, am eigenen Arbeitsplatz etc.); Typ B: Rezeption in nicht inszenierten Betrachtungsumgebungen (mit FreundInnen, Fremden oder Familienmitgliedern); Typ C: Rezeption in inszenierten Betrachtungsumgebungen (mit einer größeren Gruppe von Sympathisanten auf Computerspiel-Messen, in Showrooms der Game Companies, in Video-Lounges, Jugendklubs etc.).
[3] Pfaller, Robert (Hg.), Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen, Berlin u. a. 2000.
[4] Calmbach, Marc / Borgstedt, Silke / Borchard, Inga / Thomas, Peter Martin / Flaig, Berthold Bodo, Wie ticken Jugendliche? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Berlin 2016, 185ff.
[5] Sanskrit: ‚Abstieg‘. Ein Begriff aus dem Hinduismus, der die Verkörperung einer Gottheit in der menschlichen Welt bedeutet. Siehe Wimmer, Jeffrey, Massenphänomen Computerspiele. Soziale, kulturelle und wirtschaftliche Aspekte, Köln 2017, 163.
[6] Klatt, Werner, Virtuelle Gottesdienste. Pfingstwunder in der Minecraft-Kirche. Interview im Deutschlandfunk am 27.05.2020, https://www.deutschlandfunk.de/virtuelle-gottesdienste-pfingstwunder-in-der-minecraft-100.html
[7] Fritz, Jürgen, Mein virtueller Körper und ich. Zum „corpus virtualis“ in digitalen Spielen, in: Rudolf Thomas Inderst / Peter Just (Hg.), Build `em Up – Shoot `em Down. Körperlichkeit in digitalen Spielen, Glückstadt 2013, 87.